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Einführung zu -VERORTUNG- von Dr. Raimund Kast
13. 03. 2024, Landkreismuseum Oberfahlheim


…… mit Ulrike von Quast und Martina Justus präsentiert das Museum für Bildende Kunst im Landkreis Neu-Ulm zwei Künstlerinnen, die beide mit den Mitteln der Grafik, der Plastik und der Installation arbeiten und die beide in ihren Intensionen, ihren künstlerischen Ideen eng miteinander verknüpft sind.

Im Erdgeschoss sowie im Gewölbekeller sehen sie Arbeiten von Ulrike von Quast. Mit „Verortung“ hat sie ihren Teil der Ausstellung überschrieben, ein Titel, der bereits impliziert, dass es über das formal Künstlerische hinaus um Fragen des Standpunktes, der gesellschaftlichen Haltung geht.

Vielen von Ihnen dürfte Ulrike von Quast ein Begriff sein. Hat die geborene Münchnerin doch viele Jahre in Ulm gelebt und war von 2000 bis 2011 Vorsitzende der Ulmer Künstlergilde. Seit 2016 nun lebt sie in einem kleinen Dorf in Rheinland-Pfalz, genauer im Hunsrück – eine, wie sie selbst sagt für sie komplett veränderte Lebenssituation – ländliche Umgebung statt Großstadt, viel Natur - eine Umstellung, die auch in ihrem künstlerischen Schaffen ihre Spuren hinterlassen hat.

In ihrer eigentlichen künstlerischen Aussage ist Ulrike von Quast freilich dieselbe geblieben. Ulrike von Quast ist eine Künstlerin, die in ihren grafischen Arbeiten, ihren Plastiken und Installationen ständig neue Wege, neue Ausdrucksformen sucht, die mit unterschiedlichsten Materialien experimentiert und spannende Gegensätze schafft, immer auf der Suche nach der für sie optimalen Ausdrucksform. Dabei bleibt Ulrike von Quast immer dem Gegenständlichen verhaftet, sie testet die Grenzen zur Abstraktion hin gerade in ihren grafischen Arbeiten zwar immer wieder aus, ohne sie aber zu überschreiten.

Ein Beispiel dafür ihre „Tageblätter“ hier an der Wand. Es sind kleine skizzenhafte Zeichnungen, die jeweils an einem Tag entstehen. Es sind Blätter, aus denen Spontaneität, die Lust am Gekritzel spricht, ein Linienspiel, das oft nahe an der Abstraktion ist.

Kennzeichnend für diese Arbeiten ist eine reduzierte Farbigkeit, ein Spiel mit unterschiedlichen Grautönen, mit Raum und Leere. Doch die vielfältigen grafischen und auch plastischen Ausdrucksformen sind nur Mittel zum Zweck. Im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens von Ulrike von Quast steht der Mensch - nicht als Figur an sich, sondern vielmehr als Spiegel und Ausdruck innerer Vorgänge und Befindlichkeiten.

Die Künstlerin sucht in ihren Plastiken, Grafiken und Installationen nach den inneren Vorgängen, nach den Wesensmerkmalen menschlichen Seins und stellt sich immer die Frage nach dem eigenen Bezug, dem eigenen Sein. Und für sie hat sich da in den letzten Jahren sehr viel zum Negativen verändert – wie sie selbst sagt, haben viele der Selbstverständlichkeiten, mit denen ihre Generation groß geworden ist, an Wert verloren, sind in den letzten Jahren verschwunden. Der Ukrainekrieg, der Krieg im Gazastreifen, die Flüchtlingskrise, Corona-Pandemie und Klimawandel – all dies stellt die gewohnten Selbstverständlichkeiten in unserem Leben plötzlich in Frage, hat uns allen, wie sie sagt, gewissermaßen den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie verdeutlicht das in ihren aus Wachs geformten Figuren, die einen Körper aus Eisendrähten haben, die aber plötzlich keine Füße mehr haben, keinen Sockel, auf dem sie ruhen – sie versinnbildlichen diesen Verfall unserer gewohnten Lebensweisen.

Auf der Wand gegenüber drei Arbeiten, die dieses Thema ebenfalls aufgreifen – „Unsicheres Terrain“ hat sie diese drei Blätter betitelt, die mit Siebdruck und Tusche auf bzw. hinter transparentem Japanpapier geschaffen sind.

In den drei Kabinetträumen und im Kellergewölbe im Untergeschoss zeigt sich Ulrike von Quast als engagierte Künstlerin, die sich mit gesellschaftlichen und sozialen Fragen, mit Fragen zur Menschenwürde wie zum Naturschutz beschäftigt.

Im ersten Kabinettraum hängen drei in Wachs getränkte Papierarbeiten, die das Thema der verloren gegangenen Selbstverständlichkeiten erneut aufgreifen: „Boden unter den Füßen – zwischen Ost und West“, so der Titel. Sie erkennen im rechten der drei als dunkelrote Flecken die Umrisse von Moldawien und der von Moldawien sich abspaltenden Provinz Transnistrien, dann im mittleren Blatt die Ukraine und links dann die drei baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen.

Durch den Überfall Russlands auf die Ukraine sind diese Länder und seine Menschen,Länder, die für uns Mitteleuropäer bisher eher nur Flecken auf der Landkarte waren, mit Macht in unser Bewusstsein und in unseren Alltag gerückt. Und die Künstlerin fragt: Welchen Boden unter den Füßen, welche Gewissheiten für das eigene Leben können die Menschen vor allem in diesen Ländern wieder finden? Wie können sie ihren Traum von der eigenen Lebensgestaltung verwirklichen?

Daneben, gewissermaßen als Mahnung an uns alle, die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, umweltfreundlich gedruckt als Transfer – oder Papierlithografie, auf der aus Wachs geformte, rudimentäre Torsi angebracht sind. In ihrer Reduzierung, ihrer auf das Wesentliche beschränkte Formgebung unterstreichen diese Torsi die Allgemeingültigkeit dieser Erklärung für alle Menschen.

Auf die Skizzen an der Innenwand komme ich später zu sprechen.

Im zweiten der drei Kabinetträume beschäftigt sich die Künstlerin mit Naturthemen, mit dem Werden und Vergehen von Pflanzen. Schon der Zeichner Horst Janssen hat sich intensiv mit dem Thema der Pflanze als Symbol der Vergänglichkeit beschäftigt. Schon er hat das Sich-Verdrehen von verblühenden Blüten, diese spezielle Form des Vergehens immer wieder zeichnerisch festgehalten. Ulrike von Quast geht bei ihren verblühenden Lilien noch einen Schritt weiter: als Siebdruck hat sie auf der linken Seite den Samen der Pflanze abgedruckt, im rechten Teil, der wiederum unter einer Wachsschicht liegt, welche leicht verschwommene Umrisse schafft, die Fotografie der verwelkenden Blüte gelegt und schlägt so einen Bogen vom Beginn zum Ende, vom Werden bis zum Vergehen.

Auf der gegenüberliegenden Seite finden sich drei Blättern mit Pflanzen, die die Künstlerin mit dem Titel „Vergehen“ überschrieben hat. Hier greift sie auf die Technik der Cyanotypie oder Eisenblaudruck zurück, ein Mitte des 19. Jahrhunderts entwickeltes fotografisches Druckverfahren mit blauen Farbtönen.

Der dritte Raum beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema Natur und zeigt zugleich das künstlerische Ausprobieren von Stofflichkeit und Materialität. Ulrike von Quast arbeitet hier vorwiegend mit diversen Stoffen und Papieren als Grundmaterie, mit Fäden, sie spielt mit Transparenz und Überlagerungen, es wird genäht, gedruckt, gebügelt, gewachst – kurz das ganze Ausdrucksrepertoire der Künstlerin wird spannungsreich durchexerziert. Das zeichnerische Thema sind Mücken und Fliegen – Lebewesen also, die die meisten von uns doch als eher lästige Zeitgenossen empfinden. Die Arbeiten gehen zurück auf eine Installation zum Thema Sayner Mücke, die ab April in der Sayner Hütte zu sehen sein wird. König Friedrich Wilhelm III wurde eine Sayner Mücke (tatsächlich war es eine Fliege) als Geschenk überreicht, ein Geschenk, über das er nicht besonders erfreut reagiert haben soll.

Die Künstlerin fragt: Was braucht es, um Dinge oder Lebewesen wertzuschätzen? Insekten jedenfalls erfahren immer noch keine annähernd ausreichende Wertschätzung bzw. Schutz, gemessen an ihrer Bedeutung als Bestandteil des Ökosystems und ihrer Bedrohung durch Klimawandel, die intensive Landwirtschaft, den Einsatz von Insektenschutzmitteln sowie die intensive wirtschaftliche Nutzung von Wäldern. Insbesondere Fliegen und Mücken werden fast ausschließlich als unnütz und Plagegeister angesehen. Als Bestäuber spielen sie freilich für die Artenvielfalt der Pflanzen eine große Rolle. In der Nahrungskette stehen Fliegen bei Fischen, Spinnen, Fröschen und Vögeln auf dem Speiseplan.

Welche Folgen das Insektensterben hat, ist noch weitgehend unbekannt, dass dadurch unsere Lebensgrundlagen bedroht sind, ist aber wohl allgemeiner Konsens. Mit ihren Zeichnungen von Mücken und Fliegen möchte die Künstlerin auf diesen Umstand hinweisen, uns aufrütteln, uns für diese für unser aller Lebensgrundlage wichtigen Lebewesen sensibilisieren.

Aufrütteln möchte auch die Installation „gestrandet“ im Kellergewölbe, die sich mit der südlichen Grenze Europas, dem Mittelmeer, beschäftigt. Das Mittelmeer gilt inzwischen als die tödlichste Seeroute der Welt – seit 2014 sind dort nach Schätzungen rund 28.000 Menschen ertrunken, die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein. Der Schutz von Leben und grundlegenden Menschenrechten, so die Künstlerin, hat hier trotz vielfältiger Verpflichtungen gemäß dem Völkerrecht, trotz humanitärer Imperative und trotz Menschenrechtskonventionen ihre Priorität verloren.

Die abstrahierten und tief schwarzen Schwimmwesten, zeichenhaft reduziert auf transparenten, fragilen Papierbahnen stehen dabei einerseits für das Leid der Menschen auf ihrer Suche nach Schutz und Neuanfang und andererseits für die Unfähigkeit der Regierungen der „Zielländer", ausreichend humanitäre Hilfe zu leisten und Lösungen zu entwickeln. Zeichnerische Vorstudien zu dieser Installation - und damit komme ich wie versprochen zurück zum Kabinettraum 1 – finden sich hier an der Innenwand. Und mit der schon angesprochenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die hier im 1. Kabinettraum zu finden ist, schließt sich der Kreis.